Zurück 11 Apr 2022 · 9 min lesezeit
von Hanna Eggebrecht

Eine Phobie kennen viele Menschen als starke Angst vor Spinnen oder Blut. Eine Phobie vor Sex oder auch “Coitophobie” (lat. coitus + griech. phobos = Angst vor dem Beischlaf) ist hingegen seltener bekannt. Sie zählt zu spezifischen Phobien, eine Untergruppe der Angststörungen. Betroffene mit Angst vor Sex leiden laut Erfahrungsberichten unter 

  • körperlicher Anspannung
  • Depressionen
  • Schweißausbrüchen
  • Panikattacken und 
  • panischer Angst vor körperlicher Nähe.

Anfang des letzten Jahrtausends hat Sigmund Freud mit seinen Veröffentlichungen zur Sexualtheorie das Verständnis von Sexualität maßgeblich beeinflusst. Man spricht auch von der ersten sexuellen Revolution. Dass Freud psychische Auffälligkeiten hauptsächlich auf unbewusste Konflikte zurückführte, modernisierte nicht nur das allgemeine Verständnis von Sexualität, sondern auch das der Herkunft mentaler Probleme. Heute finden sich Freuds Entwicklungen in den Konversionsstörungen wieder, doch was versteht man eigentlich unter einer Coitophobie, also der Angst vor Sex? 

Generell umfassen Sexualstörungen wie die Angst vor Sex, Beeinträchtigungen im sexuellen Erleben, Verhalten oder in körperlichen Reaktionsweisen. Man unterscheidet allgemein zwischen

  • funktionellen Störungen (psychisch bedingt, körperliche Voraussetzungen gegeben)
  • sexueller Dysfunktion (körperlich bedingte Beeinträchtigungen)
  • Paraphilien (Fixierung auf unübliche Sexualziele)

Auch äußern sich die Sexualstörungen verschieden je nach Geschlecht. Männer erleben Unlust, Erektions- und Ejakulationsstörungen oder gesteigertes sexuelles Verlangen. Frauen hingegen erleben häufiger sexuelle Aversion, mangelnde Befriedigung, Vaginismus, Schmerzen oder Erregungsstörungen. Trotz hoher Dunkelziffern sind Frauen mit ca. 40% häufiger von Appetenzstörungen betroffen als Männer, die mit ähnlichen Zahlen (38%) eine Prävalenz für frühzeitige Ejakulation haben. Somit dürfte die These naheliegen, dass Frauen in der Regel häufiger Angst vor Sex (Coitophobie) haben.

Angst vor Sex- Ursachen

Es gibt eine Reihe von Faktoren, die die Zufriedenheit mit der Sexualität und somit auch die Angst vor Sex beeinflussen:

  • Sicherheitsgefühl (“Sich-Fallen-Lassen-Können”)
  • Erwartungen
  • Kommunikation
  • Missverständnisse/ Informationsdefizite
  • ungünstige Umstände
  • Zeitmangel
  • Schwangerschaftsängste
  • Angst vor Geschlechtskrankheiten
  • Selbstsicherheit und Stimmung
  • Beziehungsprobleme
  • Adaptation an Veränderungen der Beziehung.

Das psychosomatische Modell der Sexualität des Menschen beschreibt die komplexen Zusammenhänge zwischen körperlichen (hormonellen, biochemischen) und psychologischen Prozessen (Kognition, Angst, Erwartungen).

Ursachen für eine Coitophobie können zum Beispiel auch Angst vor Verletzungen, Geschlechtskrankheiten, Körperflüssigkeiten oder im schlimmsten Fall Missbrauch und negative Erfahrungen sein. Auslöser hierfür können zum Beispiel

  • Leistungsdruck
  • Aufschieben des ersten Mals
  • befürchtete Intoleranz und Verachtung
  • religiöse oder ideologische Überzeugungen sein. 

Angst vor Sex: Psychoanalyse

Freud ging davon aus, dass sexuelle Probleme durch ungelöste Konflikte aus Erlebnissen in den psychosexuellen Phasen der Kindheit entstehen. Wer seine Eltern beim Sex sieht, also Zeuge der “Urszene” wird, oder unangemessene elterliche Reaktionen auf erste Regungen erfährt, soll diesen Konflikten ausgesetzt sein. Auch der berühmte “Ödipuskomplex” zählt zu diesen psychosexuellen Phasen, die eine Angst vor Sex hervorrufen können. Nach dem Psychoanalytiker Erik Erikson kommt es in der Entwicklung auf das sogenannte “Urvertrauen” an, um Intimität zu späteren Sexualpartnern aufbauen zu können. Die Angst vor Sex kann also maßgeblich durch Eltern oder Bezugspersonen beeinflusst werden. Wer eine Phobie vor Sex entwickelt oder Angst vor Sex hat, erlebte vielleicht in der Beziehung zu den Eltern

  • Übermäßige emotionale Distanz
  • Punitive Verhaltensweisen
  • Offene Verführung und der sexuelle Ausbeutung.

Woher weiß ich, dass ich Coitophobie habe?

Was als “normal” gilt ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Davon sind auch die gesellschaftlich akzeptierten Normen und unausprochenen Regeln für Sexualität nicht ausgenommen. Medizinisches Fachpersonal gehört zu den Berufsgruppen, die sich nicht urteilend über Sexualität äußern dürfen. Medizinisch oder psychologisch gesehen gibt es deshalb eigentlich kein normales oder abnormales Verhalten per se. Erst bei Problemen und Verhaltensweisen, die einen selbst und andere betreffen, ist eine Behandlung gerechtfertigt. Der Leidensdruck muss sozusagen das alltägliche Wohlbefinden stark genug einschränken. Um herauszufinden, ob jemand an Coitophobie, also einer phobischen Angst vor Sex, leidet, ist ein umfassendes diagnostisches Bild zu erheben. Zur Diagnostik für psychische Störungen und somit auch die Angst vor Sex zählen Interviewverfahren, Fragebögen und ggf. medizinische Untersuchungen (Hormonhaushalt, Medikamentengebrauch, Anomalien etc.). Auch das Vorliegen anderer psychischer Störungen neben einer Coitophobie sollte abgeklärt werden. Hierfür nutzt man in der Regel:

  • Anamnese (auch der bisher gelebten Sexualität)
  • Explorationsgespräche (Auslöser, Symptome, Verhalten)
  • funktionale Verhaltensanalyse (Wie, wann, warum, wodurch, mit wem?)
  • körperliche Faktoren
  • Einstellung zu eigener Sexualität (verinnerlichte Werte und Normen usw.)

Sexualstörungen werden im ICD-10 unter F52 (nicht organische sexuelle Funktionsstörungen) eingeorndet, die Angst bzw. Phobie hingegen wird ab F40.0 codiert. Hierbei sollte also genau differenziert werden, ob primär eine Angst vor Sex oder eine Sexualstörung und daraus entwickeltes Verhalten wie Angst vor Sex oder sogar eine Phobie vor Sex vorliegt. Man unterscheidet zwischen primärer und sekundärer Sexualstörung, also ob die Angst vor Sex schon immer bestand oder erst seit einem bestimmten Zeitpunkt vorliegt. Auch wichtig ist die Frage, ob die Angst vor Sex ständig also dauerhaft oder in Abhängigkeit von bestimmten Gegebenheiten (Stress, besondere Belastungen, Traumata etc.) oder Partner:innen auftritt. Sex vor Panikattacken oder Sex, der Panikattacken auslöst kann hier beispielsweise untersucht werden. Gegebenenfalls kann der Einbezug des Partners sinnvoll sein, sollte sich die Angst vor Sex gemeinsam besser behandeln lassen. Hier wird unter Umständen eine Paartherapie vorgeschlagen. 


Angst vor Sex- Therapie

Individuell unterschiedlich helfende Ansätze können für eine Sexualtherapie möglich sein. Eine spezielle Therapierichtlinie für die Angst vor Sex, also die genaue Coitophobie, gibt es bislang nicht. Es können unter anderem ein Sensualitätstraining, Verhaltenstherapien und Gesprächstherapien in Frage kommen. Bei einer Erektionsstörung kann beispielsweise das Antidepressivum Bupropion eingesetzt werden. Es wird in Deutschland auch zur Nikotinentwöhnung verwendet und wirkt lustfördernd. Außerdem kann der Alpha-2-Rezeptor-Blocker Yohimbin verschrieben werden. Er unterstützt über das zentrale und periphere Nervensystem die genitalen Erregungsmechanismen. 
Manchmal versteckt sich hinter einer Beziehungsangst die Angst vor Sex aber nicht gleich eine Phobie vor Sex (Coitophobie im engeren Sinn). Das kann zum Beispiel die Angst davor sein, sich nackt zu zeigen oder sich berühren zu lassen. Vor allem der Gedanke “nicht gut im Bett” zu sein ist leider häufig noch ein Vorurteil, mit dem gerade junge Männer zu kämpfen haben. Für Teenanger, die ein bisschen nervös sind oder Angst vor Sex bzw. dem ersten Mal haben, gilt: Je vertrauter man sich mit sich selbst und seinem Geschlecht bzw. seinen Wünschen macht, umso leichter fällt es, mutig zu sein und diese auch auszusprechen. 
Wenn traumatische oder missbräuchliche Erfahrungen gemacht wurden, wird es schwer fallen, ein “beschwingtes Sexleben” führen zu können. Hier ist es meistens die Angst vor Sex, die nur als Symptom für ein tiefgreifendes Problem fungiert und Teil einer PTBS (Posttraumatischen Belastungsstörung) sein könnte. Hierfür gelten andere therapeutische Maßnahmen und Ansätze, die mit einer Coitophobie nicht zu verwechseln sind!
Bei einem Teil Betroffener sexuellen Missbrauchs, Vergewaltigung und sexueller bzw. körperlicher Gewalt setzt ein Mechanismus ein, der sie vor dem verstörenden Erleben bewahrt– die Dissoziation. Später bestehen manchmal Amnesien für Teile des Erlebten. Menschen, die diese Seite von Sexualität erfahren mussten, haben oftmals jahrelang Probleme mit ihrer eigenen Sexualität.

Coitophobie: Abgrenzung

Angst vor Sex, also Coitophobie, ist von anderen Untergruppen und verwandten Störungsbildern abzugrenzen. Es existiert zum Beispiel auch die Genophobie (Sexualangst), die weitestgehend Angst vor Intimität und Sexualität einschließt aber etwas anderes ist als Angst vor Sex, also dem Geschlechtsverkehr an sich. Individuell sind die Ausprägungen unterschiedlich stark und können bis hin zur völligen Ablehnung körperlicher Nähe reichen.

Die Coitophobie, also die Angst vor Sex an sich gehört zu den spezifischen Angststörungen und Betroffene versuchen Sex oder auch die körperliche Annäherung zu vermeiden. Hiervon anzugrenzen sind

  • Gymnophobie (Angst vor Nacktheit)
  • Philemaphobie (Angst vor Küssen)
  • Parthenophobie (Angst vor Jungfrauen)
  • Oneirogmophobie (Angst vor feuchten Träumen)
  • Eurotophobie (Angst vor weiblichen Genitalien)
  • Phallophobie (Angst vor männlichen Geschlechtsorganen)
  • Esodophobie (Angst vor dem ersten Sexualakt)
  • Osphresiophobie (Angst vor Körpergerüchen)
  • Spermatophobie (Angst vor Sperma).

Darüberhinaus abzugrenzen von der Angst vor Sex sind Bindungsangst oder auch sexuelles Desinteresse. Die Psychotherapeutin und Autorin Stefanie Stahl benennt in ihrem Blog sieben Symptome, die darauf hindeuten, dass man bindungsängstlich ist (und nicht direkt Angst vor Sex hat). Wer genauer nachlesen möchte, hier entlang. 

  1.  Zick-Zack-Kurs zwischen Nähe und Distanz
  2.  Die Mauer zwischen uns
  3.  Einseitige Machtverhältnisse
  4.  Und plötzlich ist die Liebe weg!
  5.  Bloß keine Erwartungen!
  6.  Sex? Anfangs super, dann uninteressant
  7. Beziehung ja, aber bitte weit weg

Gerade bei Jugendlichen, denen das erste Mal Sex noch bevorsteht und die sich in der Pubertät befinden beherrschen oft Ängste und Sorgen rund um das Thema eigener Körper und Sex die Gefühlswelt. Das bedeutet aber nicht, dass auch eine Coitophobie vorliegen muss, sondern “lediglich” die Angst vor dem ersten Sex, die meist durch genügend Informationen und Austausch genommen werden kann. Eine Frauenärztin beantwortete einige Fragen zum ersten Mal hier.

Phobie vor Sex und mehr

Zum Thema “Sex, Liebe und Beziehungen” gibt es mittlerweile zahlreiche Podcasts und Formate, die im alltäglichen Ton die uns wichtigsten Themen als Sujet haben. Nicht immer folgt der Inhalt streng wissenschaftlichen Kriterien und neuester Forschung, allerdings wirkt vor allem die populärwissenschaftliche Art des Sprechens über das schambesetzte Thema Wunder. Wer lachen, lernen und an Erfahrungsberichten interessiert ist, dem sind diese Formate zu empfehlen:

  • “Eine Stunde Liebe” von Deutschlandfunk Nova: Wir Alle wissen viel über Liebe, Sex und Beziehungen. Aber wir wollen noch mehr wissen. Eine Stunde Liebe mit Shanli, Till oder Anke gibt's jeden Freitagabend um 19 Uhr als Podcast und freitags um 22 Uhr zusätzlich im Stream und Radio.
  • “Ist das Normal? -  Podcast von der ZEIT. Warum komme ich nicht? Macht Porno süchtig? Und was ist guter Sex? Die Sexualtherapeutin Melanie Büttner und der Wissenschaftsjournalist Sven Stockrahm klären auf – über Mythen, Ängste und Fragen rund um Sex, Partnerschaft und Liebe. Immer montags, alle zwei Wochen und mit spannenden Gästen.
  • Im Namen der Hose - Podcast vom Bayerischen Rundfunk: In "Im Namen der Hose" geht es um sexuelle Praktiken genauso wie um Geschlechtskrankheiten oder die Frage, wo nochmal die Prostata ist und was das mit Sex zu tun hat. Denn nur wer über seinen Körper und seine Sexualität Bescheid weiß, kann auch Spaß daran haben. Ariane und Kevin sprechen offen über ihre Erfahrungen und fragen auch euch: Was macht an, was törnt ab? Was läuft im Bett und was geht gar nicht? " Im Namen der Hose" ist deshalb auch ein Aufklärungspodcast – allerdings ohne Zeigefinger, Moralkeule und peinliche Berührtheit.
  • Sextainment bei Beste Freundinnen” - der absolut ehrliche Männerpodcast: Max und Jakob sprechen wöchentlich über psychologisch- sexuelle Themen wie Dating, Beziehung und No-Go’s. Mal allein, mal mit spannenden Gästen und weniger der Aufklärung dienend als der Unterhaltung. 
  • “Besser als Sex” - dieser unterhaltsame Podcast ist mittlerweile eingestellt, jedoch ist es möglich, die Folgen nach wie vor zu hören. Die Entertainerinnen Ines Anioli und Leila Lowfire sprechen über persönliche Erfahrungen und Tipps aus betont weiblicher Perspektive.

Ein Artikel von

Hanna Eggebrecht Redakteurin · B.Sc. Psychologie | M.Sc. Psychotherapie

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Quellenangaben

  1. Büttner M. Hyposexuelle Störung oder „sexuelle PTBS“? In: Sexualität und Trauma. Hrsg.: Büttner, M. Schattauer Stuttgart 2018; 60–67
  2. ClassenCC, Palesh OG, Aggarwal R. Sexual revictimization: a review of the empirical literature. Trauma Violence Abuse 2005; 2: 103–29
  3. Dr. med. David Goecker, Dr. med. Arne Schäffler in: Gesundheit heute, herausgegeben von Dr. med. Arne Schäffler. Trias, Stuttgart, 3. Auflage (2014). Überarbeitung und Aktualisierung: Dr. med. Sonja Kempinski | zuletzt geändert am 30.01.2020 um 15:50 Uhr
  4. https://de.wikipedia.org/wiki/Coitophobie
  5. https://dgpfg.de/blog/https-dgpfg-de-wp-content-uploads-2019-05-gyne-3-19-pdf-2-2/
  6. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/sexualstoerungen#search=713e3a7f3c7e78d0b8081713d47ff841&offset=2
  7. https://www.lilli.ch/angst_beziehung_eingehen
  8. https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/psychische-st%C3%B6rungen/sexualit%C3%A4t-geschlechtsdysphorie-und-paraphilias/%C3%BCbersicht-zum-sexualverhalten
  9. https://www.stefaniestahl.de/psychoblog-sieben-typische-symptome-von-bindungsangst/
  10. Lampe, A., Söllner,W. Pelvipathie bei Frauen. Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung. U. Egle, P. Joraschky, A. Lampe, I. Seiffge-Krenke and M. Cierpka. Stuttgart, Schattauer 2015; 426–440
  11. Seehuus M, Clifton J, Rellini AH. The role of family environment and multiple forms of childhood abuse in the shaping of sexual function and satisfaction in women. Arch Sex Behav 2015; 6: 1595–608

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